Montag, 2. Juni 2008

Die strahlende Stadt

Es war einmal ein schweizer Architekt namens Charles-Edouard Jeanneret-Gris, genannt Le Corbusier, der hatte eine Version von der perfekten Stadt. Sie sollte aus einer riesigen Parklandschaft bestehen, in der einzelne Wohneinheiten auf Stelzen standen. Jede Wohneinheit stellte er sich autark vor; mit Geschäften, Ärzten, Schulen und Kultur- und Sportangeboten für die Bewohner. Die Idee kam Le Corbusier bereits 1925, aber er konnte niemanden von seiner Stadt überzeugen. Später dann, als der Zweite Weltkrieg zu Ende und die Städte zerstört waren, fand der Architekt unter anderem in Marseille sein Glück. Seit 1952 steht dort eine Wohneinheit seiner Cité radieuse, der strahlenden Stadt.

1500 Menschen haben hier Platz. Die Wohnungen sind alle nach demselben Muster konstruiert. Einziger Unterschied: Manche haben etwas mehr Platz für Kinderzimmer, andere etwas weniger. Le Corbusier beschäftigte sich vor allem mit den Themen Schiff, Sonne und Meer. Daher ist es auch nicht verwunderlich, dass das Gebäude an sich einem Schiff ähnlich sieht. Oben auf dem Dach, wo auch die Ecole maternelle angesiedelt ist, ragen zwei Betonschornsteine in die Luft.

Vorhergesagter Regen und allgemeine Neugier trieben uns am Sonntag erneut nach Marseille, um uns den einen Teil der perfekten Stadt anzusehen. Niko, der Städtebauer, führte uns durch das Betonschiff und erzählte uns von Le Corbusiers Vision. Als wir schon auf den Rückweg machen wollten, trafen wir im Aufzug ein äußerst nettes Ehepaar, das uns eine Führung durch eine der Wohnungen anbot. Ich muss sagen: Das hätte ich nicht erwartet. So klotzig der Beton wirkt und so düster es in den Fluren ist, (Le Corbusier nannte sie Straßen und installierte deshalb nur indirektes Licht, weil man sich dort nicht aufhalten soll. Die Straßen sind allein dazu da, Wege zurückzulegen. Versammeln kann man sich in den Wohnungen oder den Gemeinschaftsräumen.) so hell und offen sind die Wohnungen hinter den massiven Türen.

Eine vier Quadratmeter große Küche liegt direkt links neben der Eingangstür. Sie ist offen zum Wohnzimmerbereich. Le Corbusiers innovative Idee: Die Frau muss sich nicht viel bewegen und ist während ihrer Arbeit nicht abgeschnitten von der Familie. Vom Wohnzimmer mit Balkon führt eine Treppe hoch ins zweite Geschoss. Hier gibt es ein Schlafzimmer, ein Badezimmer, sowie zwei identische Kinderzimmer mit Waschbecken und Dusche.

Der Wohnraum ist maximal ausgefüllt. Außer Tisch, Betten und einer Couch braucht man keine Möbelstücke. Nischen in den Wänden und Einbauschränke bieten genug Platz für alle Dinge. Das war für die Menschen, die nach dem Krieg nichts mehr hatten, natürlich ein großer Vorteil. Der Nachteil: Man kann an der Wohnung, außer mit Farbe, nicht viel verändern. Ein zentrales Heizsystem stellt in der gesamten Wohneinheit eine konstante Temperatur von 18 Grad sicher. Die Idee dabei: Die Module sollten auf der ganzen Welt aufgestellt werden können.

Das Ehepaar, das uns die Wohnung zeigte, wohnt seit 30 Jahren in der Unité d'habitation. Sie fühlen sich wohl dort und haben, wie von Le Corbusier gedacht, in ihren Nachbarn viele Freunde gefunden. An schönen Tagen trifft man sich auf der Dachterasse, die Kinder gehen zum hauseigenen Kindergarten, bald soll es wieder einen Supermarkt im Haus geben und das Fitnessstudio ist zwar nicht mehr, wie ursprünglich gedacht, kostenlos, aber für Hausbewohner um einiges günstiger.

Klingt nach einer perfekten Stadt. Begeistert waren dagegen lang nicht alle Einwohner von Marseille. Den Betonklotz nannte man Hühnerkäfig und man hatte Angst vor Geisteskrankheiten, die laut Ärzten auftraten, wenn so viele Menschen auf engstem Raum wie diesem zusammenleben würden. Für uns war es trotzdem hochinteressant, uns einen Teil der Vision anzuschauen. Wohneinheiten von Le Corbusier stehen übrigens auf der ganzen Welt verteilt, unter anderem in Berlin, Tokio oder Rio de Janeiro.

1 Kommentar:

niko hat gesagt…

guter artikel frau journalistin! gut recherchiert :)
biz